Vorstandsbericht »Aktuelles aus der Jugendpolitik«
Rede von Reiner Baur auf der VV 1/2021, 17.04.2021
Es gilt das gesprochene Wort.
Ich begrüße heute nicht nach Landtagsprotokoll, sondern ganz altbacken Ladies first:
Liebe Frau Razavi, lieber Thomas Poreski, lieber Andreas Kenner, lieber Herr Kern,
liebe Lara Herter, lieber Deniz Gedik, lieber Valentin Christian Abel,
liebe Freundinnen und Freunde,
wie ihr wisst, trete ich morgen nicht nochmal zu Wahl an. Umso mehr freut es mich, dass ich heute ein letztes Mal die aktuelle Lage jugendpolitisch einordnen kann.
Landtagswahl 2021: Nur die Spitze des demokratischen Eisbergs
Ich fange mit der Landtagswahl an: Es war nicht Schadenfreude, sondern Erleichterung als ich am Wahlabend das AfD-Ergebnis gesehen habe. Die Richtung stimmt. Aber 17 Abgeordnete der AfD sind immer noch 17 zu viel. Und auch außerhalb des Landtags verabschieden sich viel zu viele Menschen aus vernünftigen Auseinandersetzungen und laufen Rattenfängern nach. Man kann noch so oft »Querdenken« drüber schreiben, aber gedacht ist damit noch nicht und man kann sich noch so oft »Alternative« nennen, eine Alternative, die die Gesellschaft weiterbringt und auch nur ein Problem anständig löst, wird es damit nicht.
Ja, wir sind als Landesjugendring überparteilich. Aber wenn es gegen Hetzer und Spalter geht, gegen Ausgrenzung und Lüge, dann sind wir Jugendverbände Teil der Partei der Menschlichkeit und demokratischen Kultur, Partei des Pluralismus und des Anstands, Partei der Freiheit und der Solidarität. Und diese Parteilichkeit braucht es mehr denn je!
Denn das Wahlergebnis vom 14. März ist auch durch weitere Stimmenverluste bei CDU und SPD sowie in absoluten Zahlen auch bei den Grünen charakterisiert. Mehr als eine halbe Million Menschen sind dieses Mal weniger zur Wahl gegangen. Darin sehe ich auch für uns Jugendverbände eine Herausforderung. Unsere Aufgabe ist, Kinder und Jugendliche zur Teilhabe zu ermächtigen. Wir müssen sie fit machen für den demokratischen Streit und für das ganz praktische Mit-Anpacken, das gemeinsame Gestalten einer für alle lebenswerten Gesellschaft – im ganz Kleinen genauso wie im globalen Ganzen.
Die Dinge hängen zusammen. Und Demokratie fängt in der Kinderfreizeit bei der Frage an, ob es mehr Schokopudding gibt – und ob die Kinder eine Chance haben, sich den Pudding zu erstreiten. Verbandsgremien und Parlamente sind in einer demokratischen Gesellschaftsordnung nur die Spitze des demokratischen Eisbergs.
Öko-soziale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft
Die Bewältigung der Corona-Folgen sowie die nötige öko-soziale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sind zwei große Herausforderungen für uns alle. Dazu braucht es Menschen mit dem Herz am rechten Fleck, die wissen wie man anpackt, wie man was aufbaut, wie man es gemeinsam tut und niemanden zurücklässt. Menschen, die sich mit Leidenschaft und konstruktivem Blick nach vorne in den demokratischen Streit werfen. Genau darin sind wir Jugendverbände gut und es ist Kernkompetenz und Königsdisziplin zugleich von uns als Landesjugendring, dass wir im Bewusstsein der Differenzen und widerstreitenden Interessen aktiv Gemeinsamkeiten suchen, finden und daraus gemeinsame Aktivitäten entfalten. Und genau das ist eine sehr gute Voraussetzung um Baden-Württemberg auch in den kommenden fünf Jahren aktiv mitzugestalten. Es stimmt mich zuversichtlich, dass das grün-schwarze Sondierungsergebnis das Thema gesellschaftlichen Zusammenhalt zentral adressiert.
Mit der Landtagswahl wurde klar, dass Klimaschutz in der politischen Prioritäten-Setzung wichtiger wird. Endlich soll es um das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels gehen. Unsere Vollversammlung hat schon im November 2015 mit dem Beschluss »It’s our Fucking Future!« das 1,5-Grad-Ziel eingefordert. Ich zitiere: »Wir fordern den Landtag und die Regierung von Baden-Württemberg auf, unser Land bis 2025 zum Klimamusterland zu machen, in welchem Politik und Wirtschaft Verantwortung für den Klimaschutz übernehmen. Dazu müssen in allen großen Emissionsbereichen ambitionierte Klimaschutzziele und -pläne entwickelt und umgesetzt werden.«
Liebe Landespolitik, hört doch endlich auf die Jugend im Land, dann würden wir nicht so viel wertvolle Zeit verlieren und wären mit der Problemlösung beschäftigt, statt mit dem Streit darum, ob es überhaupt ein Problem gibt. Beim Klimaschutz gilt außerdem: Packt das Thema nicht rein technisch an, es ist auch eine gesellschaftliche Frage und eine Frage globaler Gerechtigkeit. Verschont uns mit Marketing-Sprechblasen und beteiligt uns! Wir Jugendverbände wollen bei der nötigen gesellschaftlichen Transformation aktiv mitarbeiten und auch in Gremien mitreden und Weichen stellen. Wie gesagt: »It’s our Fucking Future!«
Perspektive Jugend und die Jugendstrategie BW
Unsere Landtagswahl-Kampagne »Perspektive Jugend« lief trotz Corona gut. Das kann man an zwei Punkten ablesen:
- Die überfällige Wahlaltersabsenkung steht schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen fest.
- Heute sind wichtige Abgeordnete aus allen vier demokratischen Landtagsfraktionen zu Gast. Darunter mit Nicole Razavi auch eine, die sowohl die Sondierungsgespräche geführt hat als auch in den Koalitionsverhandlungen zentrale Rollen spielen wird.
Warum ist das so? Ich würde sagen: Weil wir alle zusammen gute Kampagnen-Arbeit machen. Trotz Corona habt ihr und eure Gruppen zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt und aktiv den Dialog mit den Kandidatinnen und Kandidaten gesucht. Dafür möchte ich mich bei euch allen und euren Aktiven herzlich bedanken!
Gerade in einer Zeit, in der wir alle in die eigenen vier Wände verbannt sind, ist es alles andere als selbstverständlich, sich politisch zu engagieren. Deswegen danke dafür – ganz besonders an Kerstin von der evangelischen und Dominik von der katholischen Jugend für ihre Mitarbeit in der Steuerungsgruppe.
Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle aber auch schonmal an die neu-alten Koalitionäre. Denn die beste Kampagnenforderung läuft ins Leere, wenn sich nicht beim politischen Gegenüber Menschen mit Herz und Verstand auf den konstruktiven Dialog einlassen, erkennen, was es braucht und sich dann dafür einsetzen. Aber jetzt bitte nicht auf dem Dank ausruhen. Denn noch ist nicht geliefert! Die letzte Koalition hatte 10 Millionen Euro mehr für die Jugendarbeit vereinbart und hat geliefert. Das schafft Vertrauen, vergrößert aber auch unsere Erwartungen.
Wir fordern eine Jugendstrategie für Baden-Württemberg. Was heißt das konkret?
Eine Jugendstrategie zu haben heißt, dass in Landtag, Regierung und im Verwaltungshandeln die Perspektive Jugend wahrgenommen wird und staatliches Handeln sich daran orientiert. Wir müssen sozusagen ein Update des Betriebssystems installieren, als Basis für eine gute und zeitgemäße Jugendpolitik. Das Land muss junge Menschen ernstnehmen, sie beteiligen und sie unterstützen!
Um die Perspektive Jugend in Landtag und Regierung zu etablieren müssen drei Instrumente eingeführt werden:
- Der Landtag muss eine Enquetekommission »Perspektiven von Kindern und Jugendlichen nach Corona« einrichten. Ziel ist die Formulierung zeitgemäßer Rahmenbedingungen, Bedarfen und Potenzialen von Jugendbeteiligung, Jugendengagement, Demokratielernen und Inklusion unter Berücksichtigung der mittelfristigen Pandemiefolgen und des digitalisierten Alltags heutiger Jugend.
- In der Landesregierung wird Jugendpolitik zur Chefsache. Dazu muss unter Leitung des Ministerpräsidenten ein Kabinettsausschuss Jugend eingerichtet werden, dem alle Kabinettsmitglieder angehören, die in ihrem Ressort für Jugendthemen zuständig sind. Zentrale Aufgabe des Kabinettsausschusses ist es, die ressortübergreifende konstruktive Zusammenarbeit der Ministerien in Jugendfragen sicherzustellen.
- Analog zum Jugendcheck des Bundes wird ein Jugendcheck BW eingeführt: Der Jugendcheck ist ein Instrument zur Gesetzesfolgenabschätzung. Kriterienbasiert werden Gesetzes- und Verordnungsentwürfe des Landes auf die zu erwartenden beabsichtigten wie unbeabsichtigten Folgen für junge Menschen geprüft. Die Prüfergebnisse sind öffentlich und stehen für die weitere politische Diskussionen zur Verfügung. Das wird politisches und staatliches Handeln qualifizieren und die Perspektive Jugend in Gesetzgebungsverfahren implementieren.
Jugend ernstnehmen
– Ehrenamtliches Engagement von jungen Menschen muss gefördert werden. Im Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts in der Jugendarbeit müssen Azubis den Arbeitnehmer*innen gleichgestellt und die Lohnfortzahlung während der Freistellung eingeführt werden, damit Ehrenamt keine Frage des Geldbeutels ist.
– Es braucht an allen Hochschulen verbindlich prüfungs- und praktikumsfreie vier Wochen zu Beginn der Schulsommerferien. Ehrenamt muss auch in Form von erleichterten Zugängen zu Studienplätzen sowie durch ECTS-Punkte anerkannt werden.
– Alle Vergünstigungen für Ehrenamtliche, die mit der Ehrenamtskarte eingeführt werden sollen, müssen zugleich für alle Juleica-Inhaber*innen automatisch gelten.
Jugend beteiligen
– Die Absenkung des aktiven und passiven Wahlalters kommunal und landesweit auf 16 Jahre muss schnell kommen. Und es braucht eine Bundesratsinitiative zur Absenkung des Wahlalters bei Bundestags- und Europawahlen. Aber es ist nicht mit dem Wahlalter getan. Begleitend geht es um einen Ausbau der politischen Bildung und Jugendbeteiligung muss auch jenseits von Wahlen zum Normalfall werden;
– die kommunale Kinder- und Jugendbeteiligung muss in Qualität und Quantität weiter ausgebaut werden;
– und auf Landesebene muss analog zu den Kommunen eine verbindliche Jugendbeteiligung erst noch eingeführt werden.
Jugend unterstützen
– Der Landesjugendplan muss in dieser Legislatur um weitere 10 Millionen Euro aufgestockt werden. Die Förderlinien zur außerschulischen Jugendbildung und Jugenderholung müssen ab 2022 mit einem Tagessatz von 25 Euro ausgestattet und eine zukünftige Dynamisierung geregelt werden, damit würde eine offene Rechnung aus der letzten Legislatur beglichen.
– Die institutionelle Förderung für die Jugendverbände und Landesorganisationen der Kinder- und Jugendarbeit muss endlich massiv erhöht und zukünftig regelmäßig angepasst werden. Für neue Organisationen braucht es Kriterien für den Zugang zu diesen Mitteln.
– Das Land ist in der Verantwortung für gleichwertige Lebensverhältnisse in Baden-Württemberg. Deswegen muss das Land im Dialog mit der kommunalen Familie Mindeststandards für die kommunale Mittelausstattung von Jugendringen und Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit definieren. Insbesondere im ländlichen Raum muss die Infrastruktur der die Kinder- und Jugendarbeit ausgebaut werden.
– Wie jetzt schon seit drei Legislaturen üblich, müssen die Mittel des Landesjugendplans auch in dieser Legislatur von jeglichen Haushaltsrestriktionen ausgenommen werden und Ausgabereste voll ins jeweils nächste Haushaltsjahr übertragbar sein.
All das wird eine gute Basis sein, um Themen umzusetzen und gesellschaftliche Herausforderungen anzupacken wie Inklusion, Klimaschutz, Digitalisierung und es wird uns in der Lage versetzen noch viel wirkungsvoller wichtige Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und einem lebenswerten Baden-Württemberg zu leisten.
Es geht leider nicht ohne: Corona
Ich hätte heute gerne geredet, ohne das blöde Thema Corona erwähnen zu müssen. Leider lässt das weder die Pandemielage selbst, noch der politische Umgang damit zu. Falls es sich noch nicht herumgesprochen haben sollte, nochmal in aller Deutlichkeit: Kinder und Jugendliche sind von der Pandemie und den massiven Einschränkungen seit über einem Jahr so stark betroffen wie kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe. Ich werde so langsam wirklich fuchtig, wenn die Debatte nach wie vor zentral um den nachzuholenden Schulstoff geht oder darum, wie die Kinderbetreuung aufrecht erhalten werden kann. Beides wichtig. Aber verflixt nochmal: Es gibt gerade in einer Pandemie wichtigeres.
Kinder und Jugendliche sind mehr als ein Betreuungsproblem oder zukünftiges Humankapital! Diese Art (oder besser Unart) über Kinder und Jugendliche öffentlich zu reden zeigt ganz deutlich, wie dringend eine Jugendstrategie für dieses Land ist. Die Perspektive Jugend muss ganz dringend in Parlament und Regierung hochgehängt werden, damit es uns nicht noch einmal passiert, dass eine ganze Altersgruppe derart unter die Räder kommt.
Ich kenne niemand in einem Jugendverband, der leichtfertig Veranstaltungen durchführen will oder den Infektionsschutz auf die leichte Schulter nimmt. Aber mir fehlt im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sowie den Angebote der Jugendarbeit ganz massiv die Interessenabwägung. Es geht nichtmal rein gesundheitlich betrachtet nur um Corona: Wenn Familien unter prekären Verhältnissen sehr viel Zeit alle zu Hause verbringen müssen und es vermehrt zu häuslicher Gewalt kommt wie erst vor zwei Tagen durch die amtliche Kriminalstatistik festgestellt, ist auch die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen bedroht. Und auch die seelische Gesundheit ist massiv beeinträchtigt, wenn Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten so lange so massiv eingeschränkt sind.
Corona hin oder her: Wir müssen die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit so schnell wie irgend möglich wieder hochfahren. In den Pfingstferien muss es Modellprojekte geben, die zeigen wie auch unter dem Vorzeichen der grassierenden Mutationen Freizeitangebote möglich sind und im Sommer müssen viele Ferienangebote stattfinden. Die aktuelle Forderung aus dem SM, nur noch innerhalb von Landkreisgrenzen aktiv zu sein ist für Landesverbände eine Kampfansage und viel zu defensiv gedacht. Wir müssen offensiv nach vorne denken!
Dazu muss die Koalition ein Sofortprogramm »Jugend nach Corona« auflegen, mit 3 Millionen Euro unterlegen und das Sozialministerium ab übermorgen anfangen, daran zu arbeiten. Wir sind jetzt in der zweiten Aprilhälfte und können nicht auf den Koalitionsvertrag warten!
Genug geschumpfen und gefordert. Ich bin nach wie vor Optimist. Die Voraussetzungen sind gut, dass wir gemeinsam mit allen vier seriösen Fraktionen im Landtag in den nächsten fünf Jahren viel umgesetzt kriegen. Ich bin gespannt, was wir dazu gleich von unseren Gästen hören werden.