Ganztagsschulen als Lern- und Lebensort

Wie die Ganztagsschule aus Sicht des Landesjugendrings Baden-Württemberg gelingen kann.

Der 11-jährige Samuel ist mit den letzten Wochen zufrieden: „Mittwochs um halb drei habe ich Gruppenstunde bei der Naturfreundejugend. Da gehe ich im Rahmen des Ganztagsangebots direkt vom Unterricht aus hin.“ Hausaufgaben muss Samuel im Anschluss nicht mehr machen: „Nein wieso, das machen wir im Rahmen des Ganztagschulbetriebs. Ein paar Schülermentoren aus der 9. Klasse helfen uns dabei.“

junge Leute lernen draußen

Was bedeutet eigentlich "Bildung"?

Die Jugendarbeit geht von einem breiten Bildungsbegriff aus: denn bei Bildung geht es um die optimale Entfaltung aller geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte. Sie ermöglicht es dem Menschen, selbstständig und eigenverantwortlich entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten das eigene Leben zu gestalten. Kindheit und Jugendzeit sind Lebensabschnitte des Lernens und der Entwicklung. Jedes Mädchen, jeder Junge hat dabei das Recht auf ihren oder seinen eigenen Weg. Sie haben verschiedene Lerngeschwindigkeiten und lernen bestimmte Dinge zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Junge Menschen werden mit verschiedenen Anlagen und Kompetenzen geboren, sie werden durch ihr Elternhaus und ihre Umgebung ganz unterschiedlich gefördert oder behindert, für manches begeistert, von anderem abgeschreckt. Fehler und Phasen des Stillstandes müssen erlaubt sein, aber auch Zeiten der rasanten Entwicklung.

Der Schule kommt in der Lebensphase ab dem 6. Lebensjahr eine zentrale Bedeutung als Bildungsinstitution zu. Aufgabe der Schule ist es, eine selbstständige Lebensführung zu ermöglichen. Dem derzeitigen Schulsystem gelingt es jedoch nicht Nachteile auszugleichen, die einzelne Kinder und Jugendliche aufgrund ihres familiären Hintergrundes, ihrer wirtschaftlichen oder sozialen Situation oder ihres Migrationshintergrunds haben. Eine individuelle Förderung, die ermöglicht, dass der Anschluss nicht verpasst werden kann und Einzelne nicht dauerhaft abgehängt werden, ist immer noch keine Realität. Ganztagsschule tritt mit dem Versprechen an, durch verbesserte individuelle Förderung benachteiligte und lernschwache Kinder und Jugendliche in einen gemeinsamen Lernprozess zu integrieren, sowie den besseren Schülerinnen und Schüler Gelegenheit zu geben, ihre Stärken weiter ausbauen. Das Denkmuster „entweder durchschnittliche Bildung für alle oder exzellente Bildung für einen kleinen Teil“ ist überholt. Ein neuer gemeinsamer Bildungsweg mit individueller Förderung bietet einen Gewinn für jedes Mädchen und jeden Jungen.

Die Entwicklung und Etablierung der Ganztagsschule ermöglicht eine neue Gesamtkonzeption von Bildung im Schulbereich. Dabei greifen pädagogische Ausrichtung, Inhalte und Strukturen eng ineinander und können nicht unabhängig voneinander betrachtet und diskutiert, geschweige denn verändert werden. Wir brauchen ein Schulsystem, das gleiche Zugangsmöglichkeiten für alle, unabhängig von Herkunft, Bildungsstand und sozialer Stellung der Eltern tatsächlich ermöglicht. Das Ganztagsschulsystem soll Kinder und Jugendliche fördern und ihnen den Spaß am Lernen und an der Entwicklung vermitteln.

Pädagogische Gestaltung des Systems Ganztagsschule

Junge betrachtet LandkarteDie Schule ist als formaler Bildungsort, den alle Kinder und Jugendlichen besuchen müssen, von vorgegebenen Bildungszielen, -standards und -inhalten geprägt. Ihr Schwerpunkt liegt beim formalen Lernen. Auch wenn der Bildungsanspruch der Schule meist sehr umfassend beschrieben wird, muss festgehalten werden, dass ihre zentrale Aufgabe in der Vermittlung von kulturellem Wissen und der Aneignung von materiell-praktischen Kompetenzen liegt. Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen, dass die Schule diese Aufgaben gut erfüllt, denn Kompetenzen in diesen Bereichen sind ausschlaggebend für eine selbstständige Lebensführung, insbesondere für die Teilnahme am Arbeitsleben, die einen wesentlichen Lebensbereich ausmacht. Wenn die Schule diese Aufgabe der Lernunterstützung nicht adäquat erfüllt, belastet sie Familien durch die Überforderung der Hausaufgabenbetreuung und treibt Mädchen und Jungen in den kommerziellen Nachhilfeunterricht, den sich nur bestimmte Gruppen leisten können.

Für eine umfassende Bildung ist es andererseits notwendig, dass sich formale, nonformale und informelle Lernprozesse verschränken und gegenseitig ergänzen. Deswegen braucht es formale und nonformale Angebote und Räume für informelles Lernen. Der Bildungsort Ganztagsschule muss daher durch weitere, eher weniger formalisierte Bildungsorte und Lernwelten ergänzt werden und mit ihnen kooperieren. So können auch die weiteren Dimensionen von Bildung, also die Sozialintegration und der Bereich der personalen Kompetenzen, gefördert werden.

Strukturelle Gestaltung des Systems Ganztagsschule

Verschiedene Studien zeigen, dass der Zugang zu Bildungsangeboten sowie die Chance auf einen höheren Schulabschluss strukturell ungerecht sind. Verbesserte Bildungschancen werden unter anderem durch die flächendeckende Einführung von Ganztagsangeboten gefördert. Ganztagsschulen ermöglichen mehr soziales Lernen in der Schule und eine Verbesserung der individuellen Förderung jedes Schülers und jeder Schülerin. Gerade auch für Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag zu besseren Bildungschancen.

Nur eine für alle verpflichtende Ganztagsschule kann das Bildungsgefälle abbauen, weil hier Kinder und Jugendliche, die zu Hause nicht unterstützt werden (können), besser betreut werden. Das wird allerdings nicht mit einer Form der Beschulung erreicht, die einfach verlängert wird, sondern nur wenn die zusätzlich vorhandene Zeit und der Raum für neue Lernformen genutzt werden. Damit darüber hinaus Raum für andere Bildungsorte und Lernwelten, wie z.B. Jugendverbände, bleibt, muss sich Schule begrenzen.

Aus Sicht des Landesjugendrings heißt das für die Struktur der Ganztagsschule, dass es eine gebundene Ganztagsschule mit einem ganztägigen Angebot von 8:00 bis 16:00 Uhr an drei bis vier Tagen in der Woche und freien Nachmittagen an den übrigen Tagen geben muss. Der 45-Minuten-Takt wird durch rhythmisierte Angebote abgelöst, die dem Bedarf der Schülerinnen und Schüler entsprechend angepasst werden. Die Hausaufgaben und Lernzeiten sind in den Schulalltag integriert. Es gibt genügend Raum für eigenverantwortliches, freies, individuelles Arbeiten im Rahmen der Schule.

Mitbestimmungsmöglichkeiten und Demokratisierung von Schule

Für alle jungen Menschen steht Schule als gesellschaftliche Institution, verbunden mit der Schulpflicht, im Mittelpunkt ihres Lebens. Dabei präsentiert sie sich für Schülerinnen und Schüler als eine in sich geschlossene Welt. Sie ist mehr als nur die Institution Schule, sie ist faktisch Lebensraum für Jungen, Mädchen, Lehrerinnen und Lehrer sowie weiteren Menschen. Dieser Lebensraum soll auch als solcher gestaltet werden.

GruppenübungDie Schule spiegelt die Welt der Erwachsenen, unsere Gesellschaft, im Kleinen wieder. Um die Kinder und Jugendlichen auf diese Welt vorzubereiten, sollte Schule, begriffen als Lebensraum, ein Forschungs- und Versuchslabor sein, in dem junge Menschen das Leben in Gemeinschaft einüben. Schule sollte einerseits ein geschützter Raum sein, der jungen Menschen die Möglichkeit gibt, sich übend auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten, und andererseits Teil des Lebens sein, in dem „echte“ Erfahrungen gemacht werden können, zum Beispiel in der Übernahme von Verantwortung.

Dazu gehört selbstverständlich, dass Schülerinnen und Schüler den Lebensraum Schule (mit)gestalten. Von ihnen wird erwartet, dass sie eines Tages bereit sind, als mündige Bürgerinnen und Bürger Teil der demokratischen Gesellschaft zu sein. Sie brauchen deswegen die Möglichkeit, frühzeitig Mitbestimmung einzuüben. Deswegen muss die Steuerung und Gestaltung von Schulen demokratischer werden. An die Stelle eines von hierarchischen Strukturen geprägten Lernklimas tritt eine demokratische Kultur der Mitbestimmung, die Schülerinnen und Schüler ermutigt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen!

Im Rahmen der Gantagsschule ist es für uns ganz wichtig, dass kooperierende außerschulische gemeinwohlorientierte Bildungspartner an den Schulgremien, v.a. an der Schulkonferenz, als stimmberechtigtes Mitglied beteiligt werden.

Die Schule und ihr Umfeld: Öffnung der Schule

Schule ist ein wichtiger Bestandteil der Infrastruktur einer Kommune. Für Kinder und Jugendliche ist die Schule ein Bildungsort, in dem sie sich aufhalten und Bildungsanreize erhalten können, ebenso wie öffentliche Plätze oder Jugendgruppen.

Um den Anforderungen der heutigen Zeit an Mädchen und Jungen gerecht zu werden und realitätsnahe Bildung zu ermöglichen, muss sich Schule in ihr Umfeld öffnen und die Akteure darin wahr- und ernst nehmen, d.h. Schule öffnet sich aktiv für andere Akteure im Gemeinwesen, insbesondere für andere gemeinwohlorientierte Bildungs- und Jugendhilfeträger.

Eine gemeinsame Bildungsplanung aller Akteure kann der Schule helfen, sich in das Gemeinwesen zu integrieren und Brücken zu anderen Institutionen und Bildungsorten für die Schülerinnen und Schüler zu bauen. Dafür ist es aber unabdingbar, dass Kommunen als Schulträger, gemeinwohlorientierte außerschulische Partner und die Ganztagsschulen selbst organisatorisch, strukturell und finanziell mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden, denn nur so kann Ganztagsschule auch gelingen. Zentral hierbei ist die Koordinierung der Ganztagsangebote, hierfür hat die Jugendarbeit auch schon Konzepte vorgelegt, allerdings muss klar sein, dass eine erfolgreiche Koordinierung nicht zum Nulltarif zu haben ist. Ganztagsschule kostet Geld.

Ein Plädoyer: Ganztagsbildung ist mehr als Ganztagsschule

Zur Ganztagsbildung gehören neben der Schule, den ganztägigen Angeboten und der klassischen Jugendarbeit, die weiterhin am Abend, an den Wochenenden und in den Ferienzeiten stattfindet, auch Angebote von und Kooperationen mit weiteren gemeinwohl-orientierten Bildungsträgern, Bildungsorten und Bildungs-gelegenheiten. Zusammengedacht entsteht so ein integriertes Bildungssystem in einem gemeinwesenbezogenen und gemeinwohlorientiertes Konzept. Dieses braucht eine kommunal verantwortete Planung, in der Bildungs- und Jugendhilfeplanung vernetzt werden und alle Kinder und Jugendlichen im Blick sind.

Dazu sind auf kommunaler Ebene Aushandlungsprozesse und Verabredungen über Bildungsverständnis, die Ziele der gemeinsamen Angebote, die Aufgabenteilung und über die Finanzierung notwendig. Gemeinsam können Schulen und außerschulische Partner ein Verständnis entwickeln, bei dem Bildung und Bildungsplanung im Vordergrund stehen.

Um dem neuen, kooperativ verantworteten Bereich der Ganztagsbildung die Anbindung an seine „Wurzeln“, die Jugendarbeit und die Schule deutlich zu machen und zu erhalten, sind inhaltliche, personelle und strukturelle Verschränkungen mit beiden Ursprungssystemen sinnvoll. Dies ist auch für die Kinder und Jugendlichen von Bedeutung, denn so wird für sie die komplementäre Relevanz beider Bildungsformen erlebbar.

Die inhaltliche Verschränkung findet beispielsweise sehr grundlegend darin ihren Ausdruck, dass die Grundprinzipien der Jugendarbeit Eingang in den schulischen Kontext finden. Dieses setzt ein „Mehr“ an Verbindlichkeit voraus, als es die Jugendarbeit gewohnt ist, dadurch kann jedoch das Prinzip der Freiwilligkeit eingeschränkt werden.

Personelle Verschränkung bedeutet, dass die kooperativen Angebote zumindest punktuell von Lehrerinnen und Lehrern sowie den Fachkräften der Jugendarbeit gemeinsam durchgeführt werden. Dadurch entstehen Beziehungsbrücken zwischen den Systemen und es wird deutlich, dass es nicht nur um ein additives, sondern auch um ein integriertes System geht. Voraussetzung ist, dass die Angebote nicht ausschließlich mit externen, zusätzlichen Kräften geleistet werden. In der Schule braucht es dazu Regelungen, wie das Engagement in Kooperationsangeboten zum Auftrag von Lehrerinnen und Lehrern werden kann; in der Jugendarbeit, insbesondere im ländlichen Raum, ist zusätzliche Personalausstattung notwendig. Denn das zeigt sich deutlich in vielen Modellprogrammen: die Ehrenamtlichen der Jugendarbeit, die mit ihrem Engagement bereits ihren Verband tragen, können, häufig selbst noch Schülerinnen und Schülern, Auszubildende oder Studierende, ohne hauptberufliche Unterstützung verlässliche Schulkooperationen nicht leisten.

Ein Teil der strukturellen Verschränkung findet sich in der Frage, in welchen Räumen die Angebote stattfinden. Dies braucht eine gute Lösung, denn die Räume sind Teil des Settings und beeinflussen die Angebote, die in ihnen stattfinden. Jugendbildung braucht Räume außerhalb unterrichtlicher Settings, also eigene Räume in der Schule oder noch besser die Möglichkeit, nahegelegene Jugendeinrichtungen zu nutzen.

Über die Raumfrage hinaus meint strukturelle Verschränkung auch eine verschränkte Planung, wie bereits genannt. Idealerweise sind kooperative Angebote der Ganztagsbildung gemeinsam verantwortete Angebote, für die in gemeinsamen Gremien Konzepte entwickelt werden. Nicht zuletzt: Für diese neuen Angebote ebenso wie für ihre Organisation, Koordination und die Vermittlung zwischen den Systemen braucht es eigene Ressourcen.

Für die Jugendarbeit ergibt sich durch die Kooperation im Rahmen der Ganztagsbildung die Chance, neue Zielgruppen zu erreichen und im Sinne der Bildungsgerechtigkeit weitere Gruppen von Kindern und Jugendlichen an non-formaler und informeller Bildung partizipieren zu lassen. Eine konzeptionell durchdachte und auf Kooperation ausgelegte Ganztagsschule bietet die Chance, dass Kinder und Jugendliche einerseits Zugang zu den Feldern der Jugendarbeit bekommen, andererseits mit dem täglichen Ende der Schulzeit frei sind für andere Aktivitäten, wenn Hausaufgaben und Selbstlernphasen in den Schultag hinein verlagert werden.

von Kerstin Sommer, Vorsitzende Landesjugendring Baden-Württemberg

Der Landesjugendring betrachtet das Schulsystem aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen und formuliert ihre Interessen und Forderungen und mischt sich so in die Bildungsdebatte mit ein.[1]



[1] Die Landesverfassung Baden-Württemberg weist dafür in Artikel 12, Absatz 2 bereits den Weg: „Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend.“

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